Katers Bericht über seinen Gefängnis-Aufenthalt 1893. Erschienen in Besinnung und Aufbruch, 2. Jahrgang, Heft 8, Dezember 1930, S.119-122
Fideles Gefängnis? wird mancher fragen. Gibt es denn so etwas auch? Ja! es kommt bei der Beurteilung der Sache lediglich darauf an, wie der Gefangene sich mit der Strafe und mit allem Drum und Dran abfindet, vielfach auch darauf, was die Ursachen seiner Verurteilung sind. Ich zum Beispiel habe alle meine Inhaftierungen immer auf die leichte Achsel genommen. War ich mir doch voll bewusst, dass ich nach meinen Begriffen niemals eine menschlich unehrenhafte Handlung begangen und in meinem ganzen Leben keinem Menschen wissentlich jemals Unrechtes zugefügt habe. Wenn man aber wegen seiner Tätigkeit auf Grund der Gesetze trotz aller Vorsicht von den Gesetzeswächtern doch einmal verurteilt wird, dann ist das meist weniger auf die Handlung des Menschen, als auf die bestehenden Gesetze zu buchen. Kurz und gut, ich habe solche Haft mehr als Erholung, als eine Buße aufgefasst, und in den Gefängnissen immer dahin gewirkt, soweit ich mit anderen Insassen in Berührung kam, dass auch diese die Dinge nicht gar zu schwer nahmen.
Eines dieser sogenannten fidelen Gefängnisse befand sich in Rummelsburg, am Rummelsburger See. Es hieß Hilfsstrafgefängnis für Plötzensee. Es war aber kein Zellengefängnis und die Gefangenen, mit Ausnahme einzelner, die im Büro arbeiteten, hatten nur kürzere Strafen abzusitzen. Die Gefangenen, soweit sie nicht mit Außenarbeiten beschäftigt wurden, mussten von morgens bis abends auf dem Rohrboden arbeiten. Ein großer Saal, auf dem hunderte Männer aus Flechtrohrabfällen, die von Fabriken geliefert wurden, die brauchbaren Strähnen heraus sortierten, die dann von anderen Gefängnissen zu Rohrdecken verarbeitet wurden. Dass solche Beschäftigung einem Menschen, der an frische Luft gewöhnt war, nicht sonderlich behagte, ist leicht zu verstehen. Es bot sich auch bald Gelegenheit, davon abzukommen, indem ich mich zur Außenarbeit meldete, zu welcher neun bis zehn Mann von dem an der Hauptstraße gelegenen Kalkwerke verlangt wurden.
Die Kolonne musste täglich in ihrem Gefangenen-Dress, der aus einer schwarzen Jacke und Hose und einer schirm- und kokardenlosen schwarzen Mütze bestand, je zwanzig Minuten zur und von der Arbeitsstelle die Hauptstraße passieren und sich allen Neugierigen als Studien- oder Spottobjekt preisgeben. Bei meinem Anzug war freilich schwer zu unterscheiden, welches der eigentlichen Urstoffe und die Grundfarbe war, weil er einen Flicken über den anderen zeigte! Aber was verschlug mir das? Ich hatte dabei oftmals das Vergnügen, von meinen Freunden begrüßt und mit Geld versehen zu werden.
Die Arbeit bestand in dem Ausladen von Kohlen, Zement und Kaltsteinen aus den Spreekähnen, oder in dem Füllen und Entleeren der Kalkbrennöfen mit Kalksteinen. Wer dumm genug war, seine Karre dabei zu sehr zu beladen, dem mag diese Arbeit schwer gefallen sein. Mir jedenfalls nicht, ich fühlte mich sehr frei.
Die Beköstigung der Gefangenen in der Anstalt, soweit es das Mittagessen betraf, war gut zu nennen. Freilich gab es nur täglich ein Pfund trocken Brot und des Abends einen Napf undefinierbarer Suppe, die wir „blauen Heinrich“ nannten. Aus Buchweizengrütze mit Wasser hergestellt, hatte sie immer einen Schein wie Seewasser. In dem Kalkwerke aber bekam jeder Gefangene zum zweiten Frühstück ein Stück Wurst und eine Flasche bayrisch Bier, zu Mittag je zwei Gefangene eine große Lübbener – ähnlich dem heutigen Malzbier – und täglich eine vier Zentimeter lange Stange Priemtabak. Dazu kam noch, dass die Schiffseigner des Öfteren eine Flasche Schnaps spendierten. Da ich das Trinken ablehnte, bekam ich auf Wunsch ein paar Zigarren, die ich während der Mittagspause in einem Schlupfwinkel heimlich aufrauchte. Der überwachende Aufseher brauchte das nicht zu merken. Was nicht auf der Arbeitsstelle verbraucht wurde, nahm man mit zur Anstalt. Es hatte ja jeder seinen Brotbeutel. Visiert wurden wir nicht.
Das Rauchen war meine Leidenschaft schon damals. Und da ich immer Geld hatte, was mir meine Freunde in Berlin, wenn nicht eigenhändig, dann durch die Kinder auf dem Wege von der Arbeitsstelle zur Anstalt gaben, besorgten mir meine Mitgefangenen für ein paar Schnapsgroschen das nötige Rauchmaterial. An dem Grenzzaun des Kalkwerkes lag eine Kneipe, aus der alles besorgt wurde, wenn der überwachende Aufseher außer Sicht war. Den Priemtabak konnte ich für mich nicht gebrauchen. Der erfüllte aber wieder einen anderen wohltätigen Zweck. Einem Gefangenen, der Raucher, Schnupfer oder Tabakkauer ist, wird eine Haft tausendfältig schwerer, wenn ihm dies alles entzogen ist. Strafanstalten lieferten solche Dinge nicht. Wenn ich meine Priemstange brachte, dann rissen sich die Leute darum und ich hatte den Vorteil, dass ich in der Anstalt nichts anfassen brauchte. Nicht nur, dass ich den Scheisskübel nicht entleeren brauchte (Wasserklosett war in der Anstalt nicht vorhanden und man kann sich gewiss vorstellen, wie besagter Kübel des Morgens aussah, wenn auf einem Saale fünfzig Menschen darin ihre Bedürfnisse erledigt hatten). Ich brauchte so wenig meine Stiefel putzen wie mein Bett zu machen. Damit soll nicht gesagt sein, das ich das nicht auch alles selbst getan hätte, aber man ließ mich einfach an diese Dinge nicht heran. Und das nur wegen der Stange Priemtabak.
Mein Aufenthalt in dieser Anstalt war auf zwei Monate beschränkt, und zwar vom 2. Mai bis 2. Juli 1893 – eine Jahreszeit also, in der die Sonne längstens am Himmel steht. Unser Saal lag unweit des Rummelsburger Sees, hatte fünf oder sechs Fenster und gab uns Gelegenheit, den ganzen See bis nach Stralau zu überschauen und alles zu beobachten, was auf dem See oder auf der anderen Seite gespielt wurde. Ja gespielt wurde! War doch jede Woche einmal im Garten der damaligen Reichach’schen Brauerei großes Konzert. Und da unser Schlafsaal spätestens um 7 Uhr, wo alles in den Betten sein musste, geschlossen wurde, kann man sich denken, wenn der Aufseher zugeschlossen und die Nachtlaterne angezündet hatte, kein Mensch in der Klappe blieb. Mit einem Rutsch, wie auf Kommando, waren sämtliche Betten leer. Selbstverständlich wurden da nicht er die Kleider angezogen. War kein Konzert, dann wurden Spiele veranstaltet. Oftmals die drolligsten Dinge, die immer wieder neu erfunden wurden. Ich war Mitglied des Vergnügungskomitees. Eine dieser Abendveranstaltungen bestand in der Taufe der Neuhinzugekommenen. Es ist schon gesagt, dass alle nur mit dem Hemde bekleidet waren. Ein Gänsemarkt wurde nun veranstaltet. Das ging so: Die Eingeweihten und der „Neue“ mussten sich mit angezogenen Knien in einer Reihe auf den Fußboden setzen. Zwei Mann gingen hinter den Rücken der Sitzenden und hoben jeden Einzelnen an. Die Übrigen bildeten das kaufende Publikum. Kam das Anheben an den Neuling, dann schob der zweite der „Wiegenden“ diesem ein Waschbecken voll Wasser unter den Hintern, in das er beim Herunterlassen möglichst wuchtig hineingesetzt wurde. Man kann sich das Gelächter vorstellen, das dann ausbrach. Der Gewogene wurde beruhigt mit dem Versprechen, am nächsten Abend selbst der „Wieger“ zu sein. So wurde allerlei Allotria getrieben, bis es einmal zu einem ernsten Fall kam, der auch für mich Ermahnung und Ratschläge unseres Saalaufsehers zur Folge hatten.
Obwohl kein Gefangener im Besitze eines Messer oder ähnlicher Gegenstände sein durfte, war das hier fast unvermeidlich, weil die Rohrbodenarbeiter bei der Arbeit selbst ein Messer gebrauchen mussten. Diese Messer sollten freilich auf dem Rohrboden bleiben. Aber da der eine oder der andere etwas zu kniebeln hatte, und sei es auch nur um Brot zu schneiden, waren auf unserem Saal immer mehrere solche Instrumente vorhanden.
Eines Abends versuchte einer dem anderen das Messer aus der Hand zu reißen und da der andere festhielt, schnitt er sich den ganzen Daumenmuskel fast bis zur Pulsader auf. Da musste der Heilsgehilfe eingreifen. Die Sache kam vor die Direktion, und dadurch zur Vernehmung der Beteiligten und des Saalältesten. Der Letztere, der das Messer mitgebracht hatte, hielt sich aber nicht an die Beschuldigung, sondern suchte sich dadurch zu erleichtern, dass er der Direktion denunzierte: Der Gefangene F.K. bringe jeden Abend allerlei Esswaren in seinem Brotbeutel, wie auch Zigarren von außen mit, die hier verteilt würden. Der alte Aufseher, der schon im Zuchthaus Brandenburg viele Jahre als Aufseher gewesen war, ließ mich beim Abendappell vortreten und nahm mich beiseite, damit die anderen nichts hörten: „Hören Sie mal, wenn Sie da draußen von irgendwem etwas zugesteckt bekommen, dann fressen sie es auch draußen auf, und bringen sie das nicht mit in die Anstalt. Denn hier sind Kreaturen drunter, wie nennt man sie doch?“ er konnte das Wort lange nicht finden – „Bachulken, die, wenn sie nicht den größten Teil von dem Mitgebrachten erhalten, alles verpetzen!“
Ich, mit der unschuldigsten Miene von der Welt, sagte ihm, dass ich doch niemals etwas mitbringe. „Ach“, meinte er, „von dem, was hier auf der Anstalt gibt, bekommt ihr Brotbeutel nicht so große Fettflecke!“ Damit war ich entlassen. Dann aber brach er los und machte einen Heidenlärm über die Schmarotzerei, die bei der Direktion stattgefunden hatte. Eine Moralpredigt, wie ich sie dem Aufseher einer Gefangenenanstalt niemals zugetraut hätte, und die nicht nur Gefängnisinsassen, sondern auch vielen in Freiheit (unlesbar) zur Belehrung im kameradschaftlichen Umgang mit Menschen gehalten werden müssen.
Am wenigsten angenehm waren die Sonntage. Vom frühen Morgen bis zum Abend mussten die Gefangenen der ganzen Anstalt gemeinsam auf dem Rohrbodensaal Mann an Mann aneinandergedrückt, sitzen. Auf jedem Ende des Saales ein Aufseher als Wache. Unterbrochen wurde diese Tortur nur durch eine Freistunde im Gefängnishof, und das zirka 30 Minuten im Gänsemarsch. Wer nicht Dissident war, musste zur Kirche gehen. Ich hatte zwar mit keiner Konfession etwas zu tun, ging aber doch zur Anstaltskirche aus Zeitvertreib und zur Belustigung. Das mag etwas banal klingen, es war aber so. Eine Reihe meiner Saalgenossen hatten sich mit mir verschworen, beim Singen der Choräle möglichst viele Tonarten so zu vermischen, dass es den Anschein hatte, hier seien Kinder, Frauen, junge Männer und alte Greise untereinander am Wirken. Uns wurde die Kirche so zum Vergnügungslokal – das sie, als die Anstalt einging, wirklich wurde. Sie verwandelte sich später in eine Tanzkneipe.
Unser alter Saalaufseher war ein sehr anständiger Mann, mit dem man schon auskommen konnte. Jeden Abend wurden neue Gefangene im Saal aufgenommen und des anderen Morgens entlassen. So auch diesmal. Es waren fünf Mann, die unserem Saal überwiesen waren. Tatsächlich waren aber von diesen nur vier Mann zur Stelle. Unser Aufseher hatte für den Fehlenden folgende Bemerkung: „Der Mann war bei seiner Ankunft heute so besoffen, dass er sich zunächst erst einmal in einer Einzelzelle ausdösen muss. Er kommt dann morgen früh.“ Als er bemerkte, dass ich darüber lachte, kam er auf mich zu und fragte in barschem Tone: „Weshalb lachen Sie?“ „Nun“, meinte ich, „das muss ja eine schöne Nummer sein!“ „Was“, meinte er, „das ist ein feiner Kerl. Den kenne ich schon lange, er war schon öfter hier. Er ist nämlich da aus dem Scheunenviertel. Arbeitet nie, aber hier, ich sage Ihnen, ist er der beste und fleißigste Kerl! Welches ist Ihre Bettnummer?“ „Nummer 14“, antwortete ich. „Saalältester, ist das Bett Nummer 16 frei? Wenn nicht, dann verlegen Sie den Inhaber in ein leeres Bett und den morgen früh hier Ankommenden neben diesen Mann. Ich will Ihnen doch einmal beweisen“, sagte er zu mir, „dass ich mit meiner Behauptung recht habe. Nach einigen Tagen werde ich Sie diesbezüglich fragen.“
Und richtig, der Mann kam. Es stellte sich heraus, dass der Alte Recht hatte. Der Häftling war nicht nur ein sehr umgänglicher und im Leben erfahrener Mensch, sondern auch der fleißigste Arbeiter auf dem Rohrsaal. Ich weiß nicht, ob andere Inhaftierte auch schon diese Erfahrungen gemacht haben. Ich habe beobachtet, dass Menschen, die in der Freiheit nie einen Finger zu produktiver Arbeit krumm machen, im Gefängnis ihres Fleißes wegen die beliebtesten Insassen sind.
Das mag ein psychologisches Rätsel sein, dessen Lösung in der kapitalistischen Welt wohl schwer zu finden ist?
Was der Anlass zu meiner Gefängnisstrafe war? höre ich Neugierige fragen. Ich hatte im Anschluss an den Erfurter Parteitag der Sozialdemokratie in Groß-Ottersleben bei Magdeburg über das Erfurter Programm referiert. Dabei soll ich mir Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen und Aufreizung zum Klassenhass zu schulden kommen lassen haben. Auch war in der Anklageschrift von Bismarck-Beleidigung die Rede. Letztere war aber bei den Verhandlungen fallen gelassen worden, weil der „Eiserne Kanzler“ keinen Strafantrag gestellt hatte.